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Qi Gong: Zwischen alter Weisheit und moderner Wissenschaft – Warum Erfahrung zählt

Aktualisiert: vor 6 Tagen

Qi Gong: Zwischen alter Weisheit und moderner Wissenschaft – Warum Erfahrung zählt

(basierend auf dem Ausbildungsskript Qigong im Spannungsfeld von Vera Kaltwasser der Deutschen Qigong Gesellschaft e.V.)

 

 

 

Kennen Sie das? Nach einer Stunde Qi Gong fühlen Sie sich ruhig, zentriert und kraftvoll. Eine tiefe, innere Gewissheit sagt Ihnen: "Das tut mir gut." Dieses Gefühl ist unmittelbar, persönlich und absolut überzeugend. Doch sobald Sie versuchen, diese Erfahrung einem skeptischen Freund oder einem wissenschaftlich geprägten Arzt zu erklären, stoßen Sie an Grenzen. Die subjektive Wahrheit des Erlebens trifft auf die Forderung nach objektiven Beweisen, nach harten Fakten und randomisierten Kontrollstudien.

 

Willkommen im Spannungsfeld, in dem sich Qi Gong heute bewegt: zwischen dem jahrtausendealten Erfahrungswissenund der modernen evidenzbasierten Forschung. Ist Qi Gong nur "Esoterik", deren Wirkung auf Einbildung beruht? Oder lässt sich das, was Praktizierende seit Jahrhunderten spüren, auch mit den Methoden der modernen Wissenschaft erklären? Wie ein Ausbildungsskript der Deutschen Qigong Gesellschaft e.V. eindrucksvoll aufzeigt, ist dies kein Widerspruch. Vielmehr erleben wir eine spannende Zeit, in der sich diese beiden Welten annähern und gegenseitig befruchten.

 

Die "Perspektive der Ersten Person": Warum Ihre Erfahrung gültig ist

Die Grundlage des Qi Gong ist und bleibt das persönliche Erleben. Seit Jahrhunderten wird dieses Wissen von Lehrer zu Schüler weitergegeben, basierend auf der direkten, körperlichen und geistigen Erfahrung. Dieses "Erfahrungswissen" – von Wissenschaftstheoretikern auch als die "Perspektive der Ersten Person" bezeichnet (vgl. A. Choifer, 2018) – ist der Kern der Praxis. Das subjektive Gefühl von mehr Gelassenheit, besserem Schlaf oder weniger Schmerzen ist nicht nur ein netter Nebeneffekt; es ist der primäre Beweis für die Wirksamkeit und der stärkste Antrieb, um am Ball zu bleiben.

 

Dieses innere Wissen ist zutiefst valide. Es braucht keine externe Bestätigung, um wahr zu sein. Doch das reine Erfahrungswissen hat auch seine Grenzen. Es bleibt oft diffus und schwer in Worte zu fassen. Wir wissen, DASS es wirkt, aber wir verstehen nicht immer, WARUM es wirkt. Diese Lücke kann zu Unsicherheit führen, besonders im Dialog mit einer Welt, die zunehmend nach wissenschaftlicher Legitimation verlangt.

 

Die "Perspektive der Dritten Person": Was die Wissenschaft über Qi Gong sagt

Genau hier kommt die "Perspektive der Dritten Person" ins Spiel: der objektive, datengestützte Blick der Wissenschaft. Zugegeben, die Forschung zu ganzheitlichen Methoden wie Qi Gong ist eine Herausforderung. Eine Praxis, bei der Körper, Geist, Atem, Vorstellungskraft und oft auch die Gruppendynamik zusammenwirken, lässt sich nur schwer in das Korsett eines standardisierten Studiendesigns pressen. Zu viele Variablen spielen eine Rolle, was die für die Wissenschaft so wichtige Randomisierung und Replizierbarkeit erschwert.

 

Trotz dieser Hürden wächst das wissenschaftliche Interesse stetig. Disziplinen wie die Psychoneuroimmunologie (die Wechselwirkung von Psyche, Nervensystem und Immunsystem), die Embodiment-Forschung (die Rolle des Körpers für unser Denken und Fühlen) und die Positive Psychologie entdecken Qi Gong als spannendes Forschungsfeld. Ein Blick in wissenschaftliche Datenbanken wie PubMed zeigt heute eine Fülle von Studien, die konkrete, messbare Wirkungen von Qi Gong belegen. Immer wieder bestätigt werden Effekte in den Bereichen:

 

•       Stressbewältigung

•       Beruhigung und Entspannung

•       Emotionale Selbstregulation

•       Stärkung des Immunsystems

•       Erhöhte Belastbarkeit und Resilienz

 

Ein interessanter Vergleich lässt sich zum MBSR-Programm (Mindfulness-Based Stress Reduction) ziehen. Dieses Programm, das Meditation, Yoga und Körperwahrnehmung kombiniert, ist wissenschaftlich exzellent erforscht. Über 1500 Studien belegen seine positiven Effekte. Diese Forschungsergebnisse ebnen auch den Weg für ein tieferes Verständnis der Wirkmechanismen von Qi Gong, das auf ähnlichen Prinzipien der Body-Mind-Verbindung beruht.

 

Ein Blick ins Gehirn: Wie Qi Gong Stress auf neuronaler Ebene begegnet

Die vielleicht spannendste Brücke zwischen Erfahrung und Evidenz schlägt die moderne Hirnforschung. Sie kann heute sichtbar machen, was im Gehirn passiert, wenn wir Stress erleben – und wie Praktiken wie Qi Gong darauf Einfluss nehmen.

 

Stellen Sie sich vor, Sie gehen durch einen Olivenhain in Griechenland und plötzlich raschelt es im Gebüsch. Blitzschnell, noch bevor Sie bewusst darüber nachdenken können, springen Sie zur Seite. Ihr Herz klopft, Ihr Atem geht schnell. Diese Reaktion wird von einem winzigen, mandelförmigen Areal tief in unserem Gehirn gesteuert: der Amygdala. Sie ist unser evolutionärer "Alarmknopf", zuständig für die schnelle Erkennung von Gefahren. Die Information vom Auge zum Muskel läuft hier über einen extrem kurzen, schnellen "Bottom-Up"-Weg (Reiz → Amygdala → Reaktion), der unser Überleben sichert.

 

Erst danach kommt die Information auf dem längeren, langsameren "Top-Down"-Weg in unserem Präfrontalen Cortex an – dem Teil des Gehirns, der für bewusstes Denken und Abwägen zuständig ist. Er analysiert die Situation genauer und gibt Entwarnung: "Das war nur eine harmlose Blindschleiche." Der Präfrontale Cortex hat eine entscheidende Funktion: Er kann die Amygdala hemmen und eine überstürzte Stressreaktion stoppen. Er ist der "CEO des Gehirns", der Sitz unserer Fähigkeit zur Selbstregulation.

 

Das Problem unserer modernen Welt ist, dass unser Alarmknopf chronisch überreizt ist. Ständige Erreichbarkeit, Informationsflut, soziale Medien und der Druck zur Selbstoptimierung ("Fear of Missing Out") versetzen die Amygdala in einen Dauer-Alarmzustand. Der Präfrontale Cortex kommt kaum noch hinterher, Entwarnung zu geben. Wir befinden uns in einem Zustand von chronischem Stress, der nachweislich das Immunsystem schwächt und uns krank macht.

 

Genau hier setzt Qi Gong an. Es ist ein gezieltes Training für den Präfrontalen Cortex. Die Praxis schafft einen heilsamen Raum zwischen Reiz und Reaktion. Wir lernen, unsere inneren Impulse wahrzunehmen, ohne sofort darauf reagieren zu müssen. Wir stärken die "inhibitorische Kontrolle" unseres Gehirns und kultivieren die Fähigkeit, bewusst aus automatischen Stressmustern auszusteigen. Wir lernen, wie es im Skript heißt, die "Hölle heiß" zu machen – also den Stress wahrzunehmen und zu spüren –, ohne uns von ihr verzehren zu lassen.

 

Neuroplastizität: Sie können Ihr Gehirn verändern

Lange Zeit dachte man, das Gehirn sei ein starres, unveränderliches Organ. Heute wissen wir dank des Konzepts der Neuroplastizität, dass das Gegenteil der Fall ist. Jede Erfahrung, jeder Gedanke, jede wiederholte Handlung verändert die physische Struktur und die neuronalen Netzwerke unseres Gehirns. Wir können neue "Datenautobahnen" bauen und alte, eingefahrene "Trampelpfade" (wie z.B. automatische Angstreaktionen) verblassen lassen.

 

Qi Gong ist aus dieser Perspektive nicht nur eine Entspannungsübung, sondern aktives Gehirntraining. Es ist eine multisensorische Praxis, die gezielt neue, gesunde neuronale Pfade anlegt, indem sie mehrere Ebenen gleichzeitig anspricht:

 

•       Kognition: Wir nutzen positive Vorstellungsbilder und beruhigende Selbstgespräche.

•       Atem: Wir beeinflussen über den Atem direkt unser vegetatives Nervensystem und aktivieren den beruhigenden Parasympathikus.

•       Haltung und Bewegung (Embodiment): Wir lösen körperliche Spannungen und senden dadurch Signale der Sicherheit an unser Gehirn.

•       Wiederholung: Durch regelmäßiges Üben werden diese neuen Reaktionen zur Gewohnheit (Habitualisierung).

 

Mit jeder Übung stärken wir die Verbindung zwischen unserem bewussten Verstand und den tieferen, unbewussten Hirnregionen. Wir werden, wie es im Skript so schön heißt, wieder mehr "Herr oder Frau im eigenen Haus".

 

Fazit: Wissen und Weisheit verbinden

Die wahre Meisterschaft im Qi Gong – und vielleicht im Leben selbst – liegt in der Verbindung von beidem: dem tiefen, persönlichen Erfahrungswissen (der "Weisheit" des Körpers) und dem wissenschaftlichen Verständnis der Wirkmechanismen (dem "Wissen" des Verstandes).

 

Für Praktizierende und Lehrende ist diese Synthese eine enorme Bereicherung. Das Wissen um die neurobiologischen Prozesse entmystifiziert die Praxis, ohne sie zu entzaubern. Es gibt uns eine Sprache, um die Wirkung von Qi Gong auch im wissenschaftlichen Kontext überzeugend zu vermitteln. Es bestätigt, was wir schon immer gespürt haben: Qi Gong ist eine hochwirksame Methode zur Selbstregulation.

 

Es ist eine Einladung, die eigene Gesundheit "in die eigenen Hände" und "in den eigenen Körper" zu nehmen – mit dem Herzen eines Weisen, der auf seine innere Erfahrung vertraut, und dem Verstand eines Forschers, der neugierig die Zusammenhänge ergründet.

 


Nahaufnahme einer Person, die Qi Gong im Freien praktiziert
Eine Person führt Qi Gong Übungen in einem ruhigen Park durch.

 
 
 

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