Warum fragen wir immer nur, was uns krank macht ? Die Kunst, gesund zu bleiben - mit Salutogenese und Qigong
- Sebastian Schleinitz
- 29. Sept.
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 4 Tagen
Fühlen Sie sich manchmal auch, als würden Sie nur noch funktionieren? Der Job fordert alles, der Terminkalender ist voll, und am Ende des Tages bleibt nur die Frage: "Warum bin ich so erschöpft?" Wir sind es gewohnt, uns auf unsere Defizite zu konzentrieren, auf das, was nicht funktioniert, auf die Symptome von Krankheit und Stress. Aber was wäre, wenn wir die Frage einfach umdrehen?
Diese revolutionäre Idee stammt vom Medizinsoziologen Aaron Antonovsky. Statt zu fragen, was uns krank macht (Pathogenese), stellte er die simple, aber tiefgreifende Gegenfrage: "Was erhält uns gesund?" (Salutogenese). Es ist ein Perspektivwechsel, der alles verändert. Er lädt uns ein, nicht länger nur die Ursachen von Problemen zu bekämpfen, sondern aktiv die Quellen unserer Kraft und unseres Wohlbefindens zu pflegen. Und eine der ältesten und wirksamsten Antworten auf diese Frage findet sich in der jahrtausendealten Praxis des Qi Gong.
Das Geheimnis der Gesundheit: Was ist Salutogenese?
Antonovskys Modell ist eine Befreiung vom starren Denken in den Kategorien "gesund" oder "krank". Er sah Gesundheit nicht als einen Zustand, den man hat oder nicht hat, sondern als einen dynamischen Prozess, einen ständigen Fluss. Stellen Sie sich einen reißenden Fluss vor, der das Leben symbolisiert. An einem Ufer liegt die Krankheit, am anderen die Gesundheit. Wir alle schwimmen in diesem Fluss. Die entscheidende Frage ist nicht, wie wir dem Wasser entkommen, sondern: Wie lernen wir, gut zu schwimmen?
Der Schlüssel dazu ist laut Antonovsky das Kohärenzgefühl (Sense of Coherence). Es ist eine Art innerer Kompass, eine tief verwurzelte Lebenseinstellung, die uns hilft, auch in stürmischen Gewässern die Orientierung zu behalten und uns in Richtung des Gesundheitsufers zu bewegen. Dieses Gefühl setzt sich aus drei zentralen Säulen zusammen:
1 Verstehbarkeit: Das Gefühl, die Welt und die eigenen Lebenserfahrungen als geordnet, strukturiert und verständlich wahrzunehmen. Es ist wie eine klare Landkarte für unsere Lebensreise. Wir verstehen, warum die Dinge geschehen, und fühlen uns den Herausforderungen nicht hilflos ausgeliefert.
2 Handhabbarkeit: Der Glaube daran, über die notwendigen Ressourcen zu verfügen, um die Anforderungen des Lebens zu meistern. Es ist das Vertrauen in den eigenen, gut gefüllten Rucksack – gefüllt mit Fähigkeiten, Wissen, sozialer Unterstützung und innerer Stärke.
3 Sinnhaftigkeit: Die tiefste und wichtigste Komponente. Es ist die Überzeugung, dass das Leben einen Sinn hat und es sich lohnt, sich für die Herausforderungen zu engagieren. Es ist das "Warum" unserer Reise, das uns die Kraft gibt, auch schwierige Passagen zu durchqueren.
Ein starkes Kohärenzgefühl macht uns resilient. Es befähigt uns, Stressoren nicht als Bedrohung, sondern als handhabbare Herausforderungen zu sehen.
Qi Gong: Mehr als nur langsame Gymnastik
Auf den ersten Blick mag Qi Gong wie eine Art sanfte, langsame Gymnastik aussehen. Doch hinter den fließenden Bewegungen verbirgt sich eine tiefgreifende Praxis, die seit Jahrtausenden in der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) zur Kultivierung von Gesundheit und Lebensenergie ("Qi") genutzt wird. Qi Gong verbindet drei Elemente zu einem harmonischen Ganzen:
• Sanfte Bewegung: Die Übungen sind langsam, fließend und für Menschen jeden Alters und Fitnesslevels geeignet.
• Tiefe Atmung: Die Atmung wird bewusst gelenkt, um den Körper mit Sauerstoff zu
versorgen und den Geist zu beruhigen.
• Meditative Konzentration: Die Aufmerksamkeit wird nach innen gerichtet, auf den
Körper, die Atmung und den Fluss der Energie.
Ein zentrales Prinzip im Qi Gong ist das von Yin und Yang. Es beschreibt die Balance von Gegensätzen, die allem im Universum innewohnt: Aktivität (Yang) und Ruhe (Yin), Anspannung (Yang) und Entspannung (Yin), Geben (Yang) und Empfangen (Yin). In unserem modernen, oft hektischen (Yang-lastigen) Alltag geht diese Balance häufig verloren. Qi Gong lehrt uns, sie wiederzufinden.
Die Brücke: Wie Qi Gong Ihr Kohärenzgefühl stärkt
Das Faszinierende ist, wie perfekt die Praxis des Qi Gong die drei Säulen der Salutogenese nährt und stärkt. Qi Gong ist quasi Salutogenese in Aktion.
Verstehbarkeit durch Qi Gong: In unserer lauten, schnellen Welt haben viele von uns verlernt, auf die leisen Signale ihres Körpers zu hören. Wir ignorieren Anspannung, bis sie zu Schmerz wird, und übergehen Müdigkeit, bis die Erschöpfung uns überwältigt. Qi Gong kehrt diesen Prozess um. Durch die nach innen gerichtete Aufmerksamkeit lernen wir, unseren Körper wieder zu spüren. Eine Verspannung im Nacken ist nicht länger nur ein lästiges Symptom, sondern eine verständliche Information: "Ich bin gestresst." Diese Selbstwahrnehmung ist der erste Schritt, um die eigene innere Welt zu verstehen und die Zusammenhänge zwischen unseren Gedanken, Gefühlen und körperlichen Zuständen zu erkennen.
Handhabbarkeit durch Qi Gong: Stress und Herausforderungen sind Teil des Lebens. Die Frage ist, wie wir darauf reagieren. Fühlen wir uns ihnen hilflos ausgeliefert? Oder haben wir das Gefühl, etwas tun zu können? Qi Gong gibt uns ein konkretes, jederzeit verfügbares Werkzeug an die Hand. Statt in einer stressigen Situation in Panik zu verfallen, können wir uns für fünf Minuten hinstellen, tief durchatmen und eine einfache Übung machen. Diese Erfahrung der Selbstwirksamkeit ist unglaublich stärkend. Wir werden vom Passagier, der den Wellen des Lebens ausgeliefert ist, zum Kapitän, der sein Schiff aktiv steuern kann.
Sinnhaftigkeit durch Qi Gong: In einer Welt, die oft von äußeren Zielen, Leistung und Anerkennung angetrieben wird, schafft Qi Gong einen Raum für inneren Sinn. Die Praxis verbindet uns wieder mit uns selbst, mit unserem Atem, mit dem einfachen Gefühl, lebendig zu sein. Dieser Fokus auf den gegenwärtigen Moment stiftet einen tiefen, inneren Frieden und eine Sinnhaftigkeit, die unabhängig von äußeren Erfolgen ist. Es ist die Erfahrung, Teil eines größeren Ganzen zu sein, verbunden mit der eigenen Lebensenergie. Dieses Gefühl gibt Kraft und Orientierung, besonders in Zeiten, in denen der äußere Sinn verloren zu gehen droht.
Eine kleine Übung für Ihren Alltag: "Den Himmel stützen"
Sie müssen kein Qi Gong-Meister werden, um die positiven Effekte zu spüren. Probieren Sie diese einfache, aber sehr wirkungsvolle Übung, die Sie jederzeit – sogar im Büro – durchführen können:
4 Ausgangsposition: Stellen Sie sich aufrecht, aber entspannt hin. Ihre Füße stehen etwa
schulterbreit auseinander, die Knie sind leicht gebeugt.
5 Hände falten: Falten Sie Ihre Hände vor Ihrem Unterbauch, die Handflächen zeigen
nach oben.
6 Einatmen: Führen Sie die gefalteten Hände langsam vor dem Körper nach oben. Wenn
sie auf Herzhöhe sind, drehen Sie die Handflächen nach außen und strecken Sie die
Arme weiter über den Kopf, als würden Sie sanft den Himmel stützen. Schauen Sie zu
Ihren Händen auf.
7 Ausatmen: Lösen Sie die Hände und lassen Sie die Arme in einem weiten Bogen an
den Seiten wieder sinken, bis sie entspannt neben dem Körper hängen.
Wiederholen Sie diese Bewegung 6-8 Mal in Ihrem eigenen Atemrhythmus. Spüren Sie die sanfte Dehnung in Ihrem Körper, die Öffnung Ihres Brustkorbs und die beruhigende Wirkung auf Ihren Geist.
Fazit: Werden Sie zum Gestalter Ihrer Gesundheit
Gesundheit ist kein Zufall und kein Geschenk, das wir passiv empfangen. Sie ist eine Fähigkeit, eine Haltung, eine Praxis, die wir kultivieren können. Das Modell der Salutogenese gibt uns die Landkarte an die Hand – das "Was" wir brauchen, um gesund zu bleiben. Qi Gong gibt uns das Fahrzeug – das "Wie" wir diese Qualitäten in uns entwickeln können.
Beginnen Sie noch heute damit, sich die richtigen Fragen zu stellen. Fragen Sie nicht nur, was Sie müde und krank macht. Fragen Sie sich: Was gibt mir Kraft? Was nährt mich? Was bringt mich ins Gleichgewicht? Und entdecken Sie die Antworten in der weisen, leisen Praxis des Qi Gong.






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